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Wie man's macht

Uwe Buse „Die ewigen Opfer

Was in Japan geschah, erlebten Arbeiter und Anwohner aus Tschernobyl bei der Katastrophe vor 25 Jahren. Sie kämpfen noch immer mit den Folgen - und für Gerechtigkeit.

Er hat das alles schon einmal erlebt. Die Rauchsäule über dem Reaktor, das unheilvolle Prasseln der Geigerzähler, die Beschwichtigungen der Politiker, die Selbstmordkommandos der Freiwilligen. Was jetzt berichtet wird aus Japan, das ist nichts Neues für Jurij Andrejew, vor 25 Jahren ein Schichtleiter im Atomkraftwerk von Tschernobyl, das Hunderttausende verstrahlte und Zehntausenden das Leben nahm.

Andrejew hat seine Arbeit an diesem 25. April 1986 gerade beendet, als im Block Nummer 4 ein Experiment zur Erprobung eines neuen Spannungsreglers durchgeführt wird. Andrejews Kollegen schalten Notkühlsysteme ab, sie deaktivieren die automatische Notabschaltung von Block 4, die Kettenreaktion gerät außer Kontrolle. Gegen 1.24 Uhr am 26. April fliegt Block 4 in die Luft.

Die Explosion sprengt die über tausend Tonnen schwere Abdeckplatte vom Reaktor, die Druckwelle zerfetzt auch das Dach, der schmelzende Kern liegt frei, radioaktive Spaltprodukte fliegen kilometerhoch.

Jurij Andrejew ist zu dieser Zeit zu Hause, seine Schicht endete um Mitternacht. Er wohnt in der Stadt Pripjat, in Sichtweite des Kraftwerks. Als er merkt, was passiert, kehrt er zurück an seinen Arbeitsplatz im Block 2, in den Kontrollraum. Es geht darum, die ersten drei Blöcke unter Kontrolle zu behalten und dafür zu sorgen, dass aus einer Katastrophe keine Apokalypse wird. Er macht das Gleiche, was 25 Jahre später im japanischen Fukushima jene Männer machen, die im Reaktor zurückbleiben und ihr Leben riskieren, um Millionen andere Leben zu retten.

Andrejew und seine Kollegen improvisieren, es gibt keinen Notfallplan für einen Unfall dieser Größenordnung. Es ist ein panischer Kampf, den Andrejew und seine Kollegen da führen, er wird sich über Wochen hinziehen und viele Menschen das Leben kosten.

Jurij Andrejew gehört nicht zu ihnen, er ist glimpflich davongekommen. Er lebt heute in Kiew, rund hundert Kilometer von der Reaktorruine entfernt, und verdient sein Geld als Präsident des ukrainischen Tschernobyl-Veteranenverbands. Er ist Sprecher von noch 220 000 Kranken, Invaliden, Todgeweihten. "Es waren mal 356 000", sagt Andrejew in seinem Büro. Radioaktivität ist ein bedächtiger, aber zuverlässiger Killer.

Jeden Tag kommen Veteranen in sein Büro, um ihre Rechte einzufordern, Menschen wie Nadja Petriona. Sie sitzt im Vorraum von Andrejews Arbeitszimmer, eine Frau Mitte fünfzig, mit hochgeschlossener Bluse. Auch sie wohnte in Sichtweite des Reaktors, in Pripjat. Sie zog sechs Jahre vor dem Unglück dorthin, ihr Mann hatte einen Job im Reaktor gefunden, als Bauarbeiter. Sie waren glücklich über den Umzug gewesen, die neue Stelle brachte mehr Geld, eine vernünftige Wohnung wurde gestellt. Nadja Petriona und ihr Mann hofften auf ein gutes Leben.

Am Morgen nach der Explosion waren Meldungen im Radio zu hören, die davor warnten, die Wohnungen zu verlassen, auch die Fenster sollten geschlossen bleiben. Es hieß, es sei nur eine Vorsichtsmaßnahme, es gebe keine akute Gefahr.

Am nächsten Tag wurde über das Radio die Evakuierung der gesamten Stadt angekündigt. Alle 50 000 Einwohner würden bis zum Abend mit Bussen aus der Stadt gebracht. Es sei eine vorübergehende Maßnahme, die Rückkehr der Einwohner sei drei Tage später geplant.

Zusammen mit ihrem Mann, ihren beiden Kindern, ihren Pässen und Proviant für drei Tage stieg sie in einen der Busse. Sie kehrten nie zurück.

Heute lebt auch Nadja Petriona in Kiew, ihr Sohn ist mittlerweile 31 Jahre alt, er leidet unter Gedächtnisschwund, zeitweiligen Lähmungen, manchmal versagt seine Stimme für Tage, manchmal sieht er kaum noch etwas.

Nadja Petrionas Mann ist arbeitsunfähig, geschwächt am Herzen, ihre Tochter ist behindert, und sie selbst verbirgt unter ihrer hochgeschlossenen Bluse die Narben und Senken, die drei Operationen in ihren Hals gegraben haben. Nadja Petriona leidet an Schilddrüsenkrebs, zweimal schon bildete er Metastasen, trotz der Operationen. Die Ärzte sagen, die Metastasen könnten immer wiederkommen. Nachts, wenn es still ist, horcht sie in sich hinein, versucht zu erahnen, ob irgendwo etwas wächst, was nicht in ihren Körper gehört.

Wenn die deckenhohen Schränke im Büro des Veteranenverbands offen stehen, versteht man das Ausmaß des Leids, das diese Katastrophe brachte. Hier reihen sich Aktenordner aneinander, jeder gefüllt mit Anträgen auf Renten, Entschädigungen, mit beglaubigten Attesten, Kopien von Gesundheitspässen.

Hier finden sich, komprimiert auf jeweils wenige Seiten, die Schicksale der Liquidatoren, jener Tausenden, die von der Regierung nach Tschernobyl beordert wurden, um Straßen und Gebäude zu dekontaminieren.

Hier finden sich Akten über junge Männer und Frauen, nach der Katastrophe geboren, in die Welt gesetzt von Eltern, die den GAU miterleben mussten. Oft sind die Unterlagen mit Fotos versehen, sie zeigen ernste Gesichter, in den Papieren geht es oft um Hirnschäden, Lähmungen, um schwache Herzen.

Viele dieser Anträge wurden schon vor Jahren gestellt, ohne dass über sie entschieden worden wäre. Die Behörden unterstellen, so schildern es die Mitarbeiter des Veteranenvereins, dass viele Antragsteller nicht wirklich krank sind, dass sie sich eine Pension erschleichen wollen.

Wiktor Lubjanski kann das nur schwer mit anhören, auch er ist hier, weil es Probleme mit seinen Anträgen gibt. Er gehörte damals, 1986, zu denen, die wegen ihres Verantwortungsgefühls nach Tschernobyl zogen. Es ging ihm um Solidarität mit den Menschen, die verstrahlt worden waren. Sie sollten die Chance haben, in ihre Stadt zurückzukehren. Das war einer der Gründe, warum er Autos, Busse, Laster in Pripjat dekontaminierte.

Würde er heute noch einmal in dieselbe Situation kommen, er würde sich weigern zu helfen, sagt er. Er sei nicht anständig behandelt worden nach der Katastrophe, nicht von der sowjetischen, nicht von der jetzigen Regierung.

Wiktor Lubjanski weiß genau, was gerade in Fukushima passiert, alle in diesem Raum wissen das, aber was sie fühlen, ist weniger Mitleid mit den Japanern als vielmehr Mitleid mit sich selbst, Wut auch darüber, dass die sowjetische Regierung ihre Bevölkerung damals so lange im Unklaren ließ.

Wer sich heute dem Unglücksreaktor nähert, der stößt zunächst auf einen Zaun und einen Checkpoint. Die Reaktorruine wird umschlossen von einer 30-Kilometer-Sperrzone, die nur mit Genehmigung des zuständigen Ministeriums betreten werden kann.

Hinter dem Checkpoint führt eine zweispurige Asphaltstraße durch Birkenwälder weiter an den Reaktor heran. Zehn Kilometer entfernt vom Zentrum der Sperrzone ist ein zweiter Checkpoint zu passieren. Ein Mitarbeiter des Ministeriums steigt in den Wagen, er hat einen Geigerzähler in der Hand. Das Gerät tickert leise, zeigt ungefähr das Dreifache der natürlichen Umgebungsstrahlung, die außerhalb der Sperrzone zu messen ist.

Das Erste, was vom Kraftwerk zu sehen ist, sind zwei mächtige Schornsteine, die über die Bäume ragen, es folgt, weiter links, ein Kühlturm und schließlich das Kraftwerk selbst, eine Ansammlung eckiger, zerklüfteter Blöcke, groß wie Kathedralen. Der Unglücksreaktor Nummer 4 ist umgeben von Kränen und Baugerüsten. Der Sarkophag aus Beton, der nach der Katastrophe in aller Eile errichtet wurde und 100 Jahre halten sollte, ist mittlerweile labil und brüchig. Eine Außenwand wird von einer Stahlkonstruktion gestützt.

Am Zaun der Baustelle zeigt der Geigerzähler eine achtmal höhere Strahlung als am Checkpoint. Kreuzt man den Korridor, durch den der radioaktive Fallout unmittelbar nach der Katastrophe zog, springt der Wert innerhalb weniger Meter auf das 700fache der natürlichen Strahlenbelastung.

Rund 3000 Arbeiter, Ingenieure und Wissenschaftler halten sich zurzeit in der Nähe des stillgelegten Kraftwerks auf, um eine weitere Erosion des Sarkophags zu verhindern. Die meisten von ihnen sind für zwei Wochen hier, dann verlassen sie die Baustelle für weitere zwei Wochen, um die Strahlenbelastung im verträglichen Rahmen zu halten.

Das Essen für diese Männer und Frauen wird von außen in die Sperrzone transportiert, die Mahlzeiten werden in einer Kantine eingenommen, die auf einem weniger belasteten Teil des Sperrbezirks errichtet wurde. Vor den Mahlzeiten muss ein mannshoher Strahlungsmesser passiert werden, Händewaschen ist verpflichtend, Handtücher gibt es nicht. Im gesamten Gebäude herrscht ein leichter Überdruck, der verhindern soll, dass im Falle eines weiteren Unfalls strahlende Partikel in das Gebäude gelangen. Falls es im Falle eines weiteren Unglücks Strom gibt.

Wenige Kilometer entfernt vom Reaktor liegt Pripjat, die Stadt, in der Nadja Petriona und rund 50 000 weitere Opfer lebten, eine Ansammlung von Plattenbauten, heute eine Geisterstadt. Die Wohnungen und Büros sind geplündert, fast alles, was irgendeinen Wert haben könnte, wurde rausgeholt im Laufe der Jahre. Nahe dem Zentrum der Stadt steht ein verrostetes Riesenrad mit gelben Gondeln. Es ist ein beliebtes Fotomotiv für risikofreudige Touristen, die hin und wieder die Sperrzone besuchen. Sie kommen in Kleinbussen, bleiben ein paar Stunden und fahren dann wieder.

Manchmal beobachtet Ganja Sawarotna dieses fragwürdige Spektakel. Sie ist 78 Jahre alt und eine der letzten Bewohner dieses verseuchten Flecks Erde. Ganja Sawarotna wurde nahe Tschernobyl geboren, auf dem Bauernhof, in dem auch ihre Eltern, ihre Großeltern, Urgroßeltern lebten. Nach der Katastrophe wurde auch sie evakuiert, aber im Gegensatz zu fast allen kehrte sie zurück in die verstrahlte Zone, nach einem Jahr schon, und seitdem lebt sie wieder am Ort ihrer Geburt, auf einem kleinen Gehöft, zusammen mit drei Schweinen, ein paar Hühnern und zwei Hunden.

Eigentlich ist es illegal, hier zu leben, aber Ganja Sawarotna und ein paar andere werden geduldet von den Behörden. Die alte Frau sitzt in der Küche ihres Hauses, der Geigerzähler liegt auf dem Tisch, er tickert, wenn ein radioaktives Partikel seine Detektoren trifft, die Anzeige pendelt um den ungefährlichen Bereich.

Sie glaube nicht, dass sie nun noch an der Strahlung sterben werde, sagt sie. Sie sei zu alt, ihr bleibe so oder so nicht mehr viel Zeit. Eigentlich sei es auch egal, woran man sterben müsse, das Wie sei wichtig, sanft müsse es ein, und das Wann, möglichst spät.

Diese Art des Todes wünscht sie sich selbst und auch möglichst vielen Japanern, sagt Ganja Sawarotna. Sie tut, was ihr möglich ist, um dieses Ziel zu erreichen. Sie betet.

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Uwe Buse


Uwe Buse, geboren 1963 in Emmerich, Studium der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte in Hamburg, Volontariat bei der Ostfriesen-Zeitung in Leer/Ostfriesland, dann dort Redakteur, seit 1997 als Reporter beim Spiegel.
Dokumente
Die ewigen Opfer (PDF)

erschienen in:
Der Spiegel,
am 21.03.2011

 

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